Im Interview mit Stefan Borho, Leiter HEKS-Wohnen beider Basel, Richard Delle Case, Sozialpädagoge und stellvertretende Leitung Wohnbegleitung Stiftung Rheinleben sowie Patrick Hersberger, Leiter Ambulante Wohnbegleitung vom Bürgerspital Basel erfahren wir, wie und warum die ambulante Wohnbegleitung immer mehr zu einer Lebensbegleitung der betroffenen Menschen wird.
Sie alle arbeiten in der ambulanten Wohnbegleitung, aber jeweils mit unterschiedlichem Klientel. Ist die Begleitung für Suchtbetroffene, körperlich oder psychisch Beeinträchtigte gleich?
Stefan Borho: In der Wohnbegleitung im Suchtbereich geht es oft um gesundheitliche Themen und Krisenbewältigung oder man hilft bei Alltagsthemen, wie zum Beispiel bei der Post, dem Umgang mit Nachbarn, Wochenplanung. Vor allem steht aber der soziale Kontakt im Vordergrund.
Richard Delle Case: Ich finde den Ausdruck Wohnbegleitung eigentlich nicht treffend. Es ist viel mehr eine Lebensbegleitung. Bei unseren Klient:innen, die psychisch beeinträchtigt sind, geht es vor allem um die Abgleichung der Realitäten oder um ihre Ängste. Dabei ist es wichtig den Aussenbezug für sie herzustellen, ihnen ein Gegenüber zu geben, um ihre Wahrnehmung zu reflektieren, damit sie sich stabilisieren können.
Patrick Herberger: Im BSB ist es ähnlich, wobei wir immer häufiger in einer Fallführungsfunktion sind. Wir setzen uns mit den Ärzten, den Spitexdiensten und dem ganzen Helfersystem auseinander und vernetzen, dabei geht es oft auch darum, dass wir für die Betroffenen in deren Alltagskomplexität den Überblick behalten.
Wie hat sich aus Ihrer Sicht die ambulante Wohnbegleitung (AWB)entwickelt?
R.D.C.: Die AWB ist heute sehr fokussiert im Sinne, dass die psychischen Krankheitsbilder auch spezifischer definiert werden. Dies ist eine grosse Herausforderung für die Fachpersonen, es ist fast nicht möglich alles in der AWB abzudecken. Deshalb ist eine Vernetzung zu den anderen Fachpersonen, wie Ärzten, Psychologen sehr wichtig.
S.B.: Früher ging es bei der AWB vor allem um den Erhalt der Wohnung und der Vermeidung von Obdachlosigkeit. Heute liegt der Fokus auf der physischen und psychischen Gesundheit des Menschen und wie er sich selbst erlebt. Es sind eigentlich zwei Entwicklungen: Einerseits konzentriert man sich mehr auf den Menschen, seine Bedürfnisse und Ziele, andererseits ist eine immer breitere Vernetzung zu den anderen Fachstellen und Kontakten sehr wichtig.
P. H.: Das BSB bietet ambulantes und stationäres Wohnen an. Wir sehen klar den Trend zum ambulanten Wohnen, die Menschen wollen alleine wohnen, was ihnen zu steht und aus meiner Optik komplett berechtigt ist. Personen, die vor ein paar Jahren noch ein stationäres Setting gewählt oder auch benötigt hätten, können heute in einem ambulanten Setting sehr gut individuell begleitet werden.
Was sind Ihre täglichen Herausforderungen in der AWB?
S.B.: Es sind vor allem die weichen Faktoren, die für die Betroffenen wichtig sind: Es geht darum, ihnen eine tragfähige und stabile Beziehung anzubieten und aufrecht zu erhalten. Erst dann ist nachhaltige Entwicklung möglich. Diese Kategorien und Aufgaben kann man oft nicht in einem IHP (Individuelle Hilfeplanung) abbilden. Wir machen vor allem soziale, aufsuchende Arbeit. Mit dem neuen Bedarfsermittlungsverfahren IHP findet man sich schnell in einer Rechtfertigungshaltung wieder, was die konkrete Arbeit beeinflusst.
R.D.C.: Der finanzierende Prozess ist sehr hemmend, er orientiert sich an den zu gesprochenen Stunden, aber nicht unbedingt an dem aktuellen Bedarf der Klient:innen. Die Kontakte, die Vernetzung, und vor allem das Case Management, das wir für die Klient:innen machen, können wir kaum abbilden. Das ist belastend und herausfordernd für unsere Mitarbeitenden.
P.H.: Tägliche Herausforderung ist es, sich mit positiver Energie und hoher Professionalität der sich fortwährend verändernden Lebensumstände unserer Klient:innen anzupassen und innerlich neu auszurichten. Was am Vorabend oder am Morgen geplant wird, kann sich innert Stunden ändern, was der eigenen Arbeitsplanung ein Höchstmass an Flexibilität abringt. Auch die von uns angestrebte hohe Tragbarkeit von anspruchsvollen Persönlichkeiten mit komplexen Helfersystemen kann uns als Team sehr fordern. Genau darin liegt aber auch Teil unseres beruflichen Anreizes und Ehrgeizes. Wir wollen viel ermöglichen!
Wo sehen Sie zukünftige Chancen der ambulanten Wohnbegleitung?
S.B.: Ich finde es toll, dass die AWB spürbar mehr Beachtung erhält. Sie bietet den Menschen viel mehr Freiheit, Selbständigkeit und Individualität, aber sie fordert auch mehr von uns als Fachpersonen: Es ist eben nicht einfach nur eine Wohnbegleitung. Es geht um das individuelle Leben des Betroffenen, wie er oder sie sich weiterentwickeln wollen. Dafür braucht es auch Professionalität.
R.D.C.: Wir sehen in der AWB eine grosse Chance, dass eine Lebensbegleitung stattfinden kann, die sich auf die individuellen Bedürfnisse der Klient:innen stützt – so wie es die UNO-BRK eigentlich auch vorsieht.
P.H.: Ambulante Wohnbegleitung ist für viele Menschen die beste Chance für gelebte Inklusion, sprich Normalität. Die Chance wird also schon heute gelebt. Es wird eine weitere Verlagerung von stationären hinzu ambulanten Wohnformen erfolgen. Beide Angebote sind gewünscht, gesucht und dadurch wichtig; es geht ja genau um die Frage, wie eine Person leben möchte und dafür geeignete Wohn- und Lebensformen zu finden oder zu erfinden. Dieser individuelle Wunsch ist unser Auftrag.